Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechts der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.

Artikel 26. (1-8) der österreichischen Bundesverfassung

 

Schon in dieser ersten Zeile des Artikel 26. der geltenden Verfassung sind also wesentliche Punkte unseres Wahlsystems festgelegt.

Es ist hierzulande allerdings keine Seltenheit, dass das Verhältniswahlrecht von PolitikerInnen zur Diskussion gestellt wird. Häufig passiert so etwas nach Wahlen. Zuletzt forderte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) ein mehrheits-förderndes Wahlrecht,- lange vor den nächsten Nationalratswahlen 2018. In seinem “Plan A“  trat er für ein “neues Wahlrecht für klare Verhältnisse“ ein. Vom Regierungspartner ÖVP wäre höchstwahrscheinlich kein Gegenwind zu erwarten. Auch der ehemalige oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) warb erst im Februar für ein Mehrheitswahlrecht, welches “zur Stärkung der stärksten Partei führen“ solle. Die Opposition in Form von FPÖ, Grünen und NEOS positionierte sich zu dem Zeitpunkt klar dagegen. In Österreich wird also vorerst weiterhin nach dem Verhältniswahlrecht gewählt.

Das wohl bekannteste Beispiel jener Länder, in denen ein Mehrheitswahlrecht Anwendung findet sind die Vereinigten Staaten. Dort wurde gerade nach der letzten US-Präsidentschaftswahl wieder sehr kontrovers darüber diskutiert und auch viele Menschen in Österreich kritisierten ein für sie ungewöhnliches Wahlsystem.

Aber was genau wird daran eigentlich kritisiert? Warum wünschen sich einige österreichische PolitikerInnen ein Mehrheitswahlrecht und andere nicht? Welche unterschiedlichen Formen gibt es und wie sieht unser Verhältniswahlrecht denn überhaupt aus?

 

Das Verhältniswahlrecht

Bei Nationalratswahlen werden die Wählerstimmen in Österreich möglichst genau in Mandate umgemünzt. Das bedeutet: Am Tag der Wahl gibt man seine Stimme einer Partei. Von den 183 Sitzen im Parlament, erhält die Partei dann im Verhältnis genauso viele Plätze, wie sie Stimmen im Land für sich gewinnen konnte. Jedoch müssen mindestens 4% aller Stimmen erreicht werden, um in den Nationalrat einzuziehen.

Das Stichwort beim Verhältniswahlrecht ist Gerechtigkeit. Der Anteil an Abgeordneten (=Mandatare) im Parlament soll die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb einer Bevölkerung wiederspiegeln.

 

Das Mehrheitswahlrecht

Das Ziel des Mehrheitswahlrechts ist es, im Parlament klare Verhältnisse für eine Partei zu schaffen. Mehr Effizienz ist dabei das Stichwort. Wie funktioniert das? Ein Wahlgebiet wird in mehrere Wahlkreise aufgeteilt. In einem solchen Wahlkreis treten verschiedene KandidatInnen zur Wahl an. Die WählerInnen haben nun die Möglichkeit für ihre favorisierten KandidatInnen zu stimmen und sie als Abgeordnete direkt ins Parlament zu schicken. Ein solches Wahlkreismandat wird nur dem Gewinner zugeteilt, die Stimmen für andere Kandidaten verfallen. „The Winner takes it all“ wird dieses Prinzip in den USA genannt. Das bisher beschriebene Verfahren wird auch als relative Mehrheitswahl bezeichnet.

Bei der absoluten Mehrheitswahl werden meist zwei Wahlgänge durchgeführt. Erhält im ersten Wahlgang niemand über 50% der Stimmen, treten im zweiten Wahlgang nur noch die zwei stimmenstärksten Kandidaten aus dem ersten Wahlgang gegeneinander an. Somit kann meist schnell ein Sieger / eine Siegerin ermittelt werden. Bei der österreichischen BundespräsidentInnenwahl 2016 wurde das allerdings durch „besondere Umstände“ verhindert.

Wichtig! Rund um die Welt gibt es die unterschiedlichsten (Misch-)Formen von Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht. Wahlrechtssysteme spezifischer Staaten sind daher meist erst im Detail erklärbar.

 

 

 

Der vielleicht größte Vorteil: Das Parlament ist ein Spiegelbild seiner Wählerschaft. Meinungen vieler gesellschaftlicher Gruppen werden bei politischen Entscheidungen berücksichtigt. Außerdem fördert ein solches Wahlsystem kleinere Parteien und erhöht ihre Chance auf Mitbestimmung. Es tendiert also grundsätzlich zu einem Vielparteiensystem, daher können WählerInnen unter einem größeren Angebot auswählen.

Der vielleicht größte Nachteil: Nach einer Wahl folgen meist zähe Koalitionsverhandlungen, auf die die WählerInnen kaum Einfluss nehmen können. Solche Koalitionsregierungen sind oft instabil. Die Ansichten der Koalitionspartner können sehr weit auseinandergehen, sodass große Reformen langsamer umgesetzt werden. Hinzu kommt eine gewisse Distanz der BürgerInnen zu ihren Abgeordneten, da im klassischen Verhältniswahlrecht keine Persönlichkeitswahlen stattfinden.

 

Das spricht dafür: BürgerInnen haben einen stärkeren persönlichen Bezug zu ihren Abgeordneten, da sie die Kandidaten vorher direkt gewählt haben. Diese Art des Wahlsystems sorgt zudem für arbeitsfähige und stabile Regierungen. Durch eine sichere Mehrheit werden Koalitionen so gut wie ausgeschlossen, was dem Wahlsieger erleichtert, die eigenen Programme durchzusetzen und Kompromissen aus dem Weg zu gehen. Für Teile der österreichischen Regierungsparteien könnte das der Grund gewesen sein, ein Mehrheitswahlrecht wieder ins Gespräch zu bringen.

Das spricht dagegen: Oppositionsmitglieder hingegen befürchten dann womöglich ein dominantes Zweiparteiensystem, zu dem ein solches Wahlrecht langfristig führt. Den BürgerInnen wird dadurch die vielfältige Auswahlmöglichkeit in der Parteienlandschaft genommen.

Die USA pflegen eine spezielle Form der Mehrheitswahl: Einzelne Bundesstaaten (zB. Kalifornien) bilden Wahlkreise, für die es eine bestimmte Anzahl von sogenannten Wahlmännern zu gewinnen gibt. Pro Bundesstaat treten zwei oder mehrere KandidatInnen zur Wahl an, der Sieger bekommt alle Wahlmännerstimmen. Diese Wahlmänner entscheiden dann, wer PräsidentIn wird. Der amerikanische Präsident Donald Trump erhielt vom Volk weniger Stimmen als Hillary Clinton und gewann trotzdem die Wahl. Besonders groß ist die Verwunderung darüber meist in denjenigen Ländern, wo sich der tatsächliche Stimmenanteil im Parlament widerspiegelt, wie das beim Verhältniswahlrecht der Fall ist.

 

Text © Lukas Kornhoffer

Grafik © Martha Schultz